Resolution RISG

Wir sind alle gleich

Die Arbeitsgemeinschaft Lebenswelten für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Beatmung lehnt den Referentenentwurf Reha-und Intensivpflege Stärkungsgesetz (RISG) aus Gründen der Gleichstellung und Teilhabe aller Menschen, sowie aufgrund sachlicher Fehler und mangelnder Praktikabilität ab.

Im Referentenentwurf RISG vom August 2019 werden die grundsätzlichen Zielsetzungen der UN Behindertenrechtskonvention, dem Bundesteilhabegesetz und dem neunten Sozialgesetzbuch außer Acht gelassen. Diese sehen ausdrücklich die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen vor. *

Der Referentenentwurf will lediglich im Sinne einer rein kurativen Zielformulierung die Behandlung und Rehabilitation von Menschen mit einem hohen Intensivpflegebedarf stärken. Keine Stärkung und Wertschätzung erfahren jedoch die Menschen, die weiterhin und dauerhaft der außerklinischen Intensivpflege bedürfen und zudem auf menschliche, assistierende und palliative Unterstützung angewiesen sind.

Das Potenzial zur Teilhabe von Menschen in allgemeiner, gesundheitlicher und sozialer Hinsicht definiert sich nicht über den Grad der Abhängigkeit von Medizin-Technologie, Assistenz oder Pflege. Wir alle sind mit den gleichen, von der Verfassung garantierten Freiheitsrechten ausgestattet und können den Aufenthalts-, Wohn- und Schulort, sowie den Arbeitsplatz frei wählen. Der vorliegende Entwurf entzieht den Menschen, die auf eine dauerhafte intensivpfegerische Versorgung angewiesen sind, diese Freiheitsrechte.

Wir fordern eine bundesweit einheitliche Regelung für alle Menschen mit Assistenz- Pflege- und intensivmedizinischem Behandlungsbedarf im Sinne der angestrebten Teilhabe in den genannten Konventionen und Gesetzen. *

In den Begründungen zu diesem Referentenentwurf werden die hohen Kosten in der außerklinischen Intensivpflege als Argument dafür genommen, den Menschen mit z.B. einer dauerhaften Beatmung, die Unterbringung in stationären Einrichtungen zu verordnen. Kostensenkung, nicht Menschlichkeit ist die oberste Handlungsmaxime dieses Entwurfes.

Die Tatsache, dass Kinder von einer verordneten Heimunterbringung ausgenommen sind mildert keinen Tatbestand, denn wir alle werden älter.

Die Arbeitsgemeinschaft Lebenswelten möchte an dieser Stelle unbedingt daran erinnern, dass ein jeder von uns in die Situation kommen kann, von intensivpflegerischer Versorgung abhängig zu sein.

In den Begründungen zu diesem Entwurf wird zudem die caritativ motivierte Pflegetätigkeit in der Häuslichkeit unter den Generalverdacht der persönlichen Vorteilnahme gestellt. Diese Argumentation lenkt von der eigentlichen Problematik ab und enthält keine juristischen oder abrechnungstechnischen Lösungsansätze. Hauptsächlich verantwortlich für Personalnotstand, Unterfinanzierung und auch Abrechnungsbetrug ist vielmehr die vor mehr als 20 Jahren initiierte und fortschreitende Ökonomisierung des Gesundheitswesens.

Die ärztliche Betreuung von Menschen in der häuslichen Intensivpflege sollen in diesem Entwurf nur noch Lungenfachärzte durchführen und nur diese sollen die außerklinische Intensivpflege auch verordnen dürfen. Diese fachlich einseitige und damit fehlerhafte Kompetenzzuweisung gefährdet in Teilen die Patientensicherheit, denn es handelt sich nur in einer Minderzahl der Fälle von Beatmungspflichtigkeit um Betroffene mit rein pulmonalen Diagnosen und Therapieansätzen.

Ausdrücklich und in aller Schärfe kritisiert die Arbeitsgemeinschaft Lebenswelten den angestrebten Paradigmenwechsel in dem Referentenentwurf RISG: „Weg von einer teilhabeorientierten Sichtweise, hin zu einer defizit- und kostenorientierten Betrachtungsweise von Behinderung und Krankheit“. Erneut gerät in Deutschland der „Wert“ eines Menschenlebens in den Focus der medizinischen Betrachtung. **

Wir fordern Zukunft, Normalität und Gemeinschaft für alle Menschen, unabhängig von ihren medizinischen Bedarfen. Denn wir sind alle gleich.

Die Selbstbestimmungsrechte und die Würde der Menschen stehen nicht zur Disposition. Auch nicht bei Krankheit und/oder Behinderung mit hohen Kosten für das Gemeinwesen in Abwägung öffentlicher Interessen.
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Einstimmige Beschlussfassung der Arbeitstagung vom 11.-12.10.2019 im Jugendwerk Hegau in Gailingen

Anmerkungen

* Wir sehen einen Widerspruch in ein und demselben Gesetzeswerk zwischen dem neuen § 37c SGB V und der Zielsetzung des SGB IX (Hervorhebungen von den Autoren). Zitat RISG § 37c, A. Allgemeiner Teil, I.: Zielsetzung…: „Die medizinische Rehabilitation hat die Aufgabe, Körperfunktionen (wieder-) herzustellen und Aktivitäten zu ermöglichen, so dass Menschen sich in ihrem Alltag zurechtfinden oder wieder in diesen zurückfinden. Bei chronischen Erkrankungen liegt die Aufgabe der medizinischen Rehabilitation darin, bereits eingetretene Funktions- und Aktivitätsstörungen soweit möglich zu reduzieren und dauerhaften Beeinträchtigungen, wie einer Pflegesituation, vorzubeugen.
Hingegen verlangt der § 1 SGB IX – Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft: „Menschen mit Behinderungen oder von Behinderung bedrohte Menschen erhalten Leistungen nach diesem Buch …, um ihre Selbstbestimmung und ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken. …“ Zitat § 4 SGB IX – Leistungen zur Teilhabe: (1) Die Leistungen zur Teilhabe umfassen die notwendigen Sozialleistungen, um unabhängig von der Ursache der Behinderung
1. die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern,
2. Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit oder Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern oder eine Verschlimmerung zu verhüten sowie den vorzeitigen Bezug anderer Sozialleistungen zu vermeiden oder laufende Sozialleistungen zu mindern,
3. die Teilhabe am Arbeitsleben entsprechend den Neigungen und Fähigkeiten dauerhaft zu
sichern oder
4. die persönliche Entwicklung ganzheitlich zu fördern und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie eine möglichst selbständige und selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen oder zu erleichtern. …

** Die Arbeitsgemeinschaft Lebenswerten bewertet den in diesem Referentenentwurf umgesetzten Paradigmenwechsel als inhaltliche Abkehr vom Humanismus. Um dem entgegenzuwirken wird die Arbeitsgemeinschaft ihre zukünftigen Arbeitsschwerpunkte in ethischen und politischen Fragestellungen vertiefen, Bündnisse mit anderen Organisationen im Gesundheitswesen initiieren und vermehrt öffentlichkeitswirksam arbeiten.

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Spezialeinrichtungen der Behinderten- und Eingliederungshilfe, Betroffenenorganisationen, ambulante Pflegedienste, Kinderkliniken und andere Organisationen haben sich seit 2004 in der „Arbeitsgemeinschaft Lebenswelten“ zusammengeschlossen. Ziel der AG Lebenswelten ist es die Lebensqualität der betroffenen Menschen, insbesondere der Kinder zu verbessern und ihnen eine Stimme für ihre besonderen Belange und Bedürfnisse zu geben.

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