Monitoring und Positionen

WIR SIND ALLE GLEICH

Die Arbeitsgemeinschaft Lebenswelten für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Beatmung lehnt den Referentenentwurf Reha-und Intensivpflege Stärkungsgesetz (RISG) aus Gründen der Gleichstellung und Teilhabe aller Menschen, sowie aufgrund sachlicher Fehler und mangelnder Praktikabilität ab.

Im Referentenentwurf RISG vom August 2019 werden die grundsätzlichen Zielsetzungen der UN Behindertenrechtskonvention, dem Bundesteilhabegesetz und dem neunten Sozialgesetzbuch außer Acht gelassen. Diese sehen ausdrücklich die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen vor. *

Der Referentenentwurf will lediglich im Sinne einer rein kurativen Zielformulierung die Behandlung und Rehabilitation von Menschen mit einem hohen Intensivpflegebedarf stärken. Keine Stärkung und Wertschätzung erfahren jedoch die Menschen, die weiterhin und dauerhaft der außerklinischen Intensivpflege bedürfen und zudem auf menschliche, assistierende und palliative Unterstützung angewiesen sind.

Das Potenzial zur Teilhabe von Menschen in allgemeiner, gesundheitlicher und sozialer Hinsicht definiert sich nicht über den Grad der Abhängigkeit von Medizin-Technologie, Assistenz oder Pflege. Wir alle sind mit den gleichen, von der Verfassung garantierten Freiheitsrechten ausgestattet und können den Aufenthalts-, Wohn- und Schulort, sowie den Arbeitsplatz frei wählen. Der vorliegende Entwurf entzieht den Menschen, die auf eine dauerhafte intensivpfegerische Versorgung angewiesen sind, diese Freiheitsrechte.

Wir fordern eine bundesweit einheitliche Regelung für alle Menschen mit Assistenz- Pflege- und intensivmedizinischem Behandlungsbedarf im Sinne der angestrebten Teilhabe in den genannten Konventionen und Gesetzen. *

In den Begründungen zu diesem Referentenentwurf werden die hohen Kosten in der außerklinischen Intensivpflege als Argument dafür genommen, den Menschen mit z.B. einer dauerhaften Beatmung, die Unterbringung in stationären Einrichtungen zu verordnen. Kostensenkung, nicht Menschlichkeit ist die oberste Handlungsmaxime dieses Entwurfes.

Die Tatsache, dass Kinder von einer verordneten Heimunterbringung ausgenommen sind mildert keinen Tatbestand, denn wir alle werden älter.

Die Arbeitsgemeinschaft Lebenswelten möchte an dieser Stelle unbedingt daran erinnern, dass ein jeder von uns in die Situation kommen kann, von intensivpflegerischer Versorgung abhängig zu sein.

In den Begründungen zu diesem Entwurf wird zudem die caritativ motivierte Pflegetätigkeit in der Häuslichkeit unter den Generalverdacht der persönlichen Vorteilnahme gestellt. Diese Argumentation lenkt von der eigentlichen Problematik ab und enthält keine juristischen oder abrechnungstechnischen Lösungsansätze. Hauptsächlich verantwortlich für Personalnotstand, Unterfinanzierung und auch Abrechnungsbetrug ist vielmehr die vor mehr als 20 Jahren initiierte und fortschreitende Ökonomisierung des Gesundheitswesens.

Die ärztliche Betreuung von Menschen in der häuslichen Intensivpflege sollen in diesem Entwurf nur noch Lungenfachärzte durchführen und nur diese sollen die außerklinische Intensivpflege auch verordnen dürfen. Diese fachlich einseitige und damit fehlerhafte Kompetenzzuweisung gefährdet in Teilen die Patientensicherheit, denn es handelt sich nur in einer Minderzahl der Fälle von Beatmungspflichtigkeit um Betroffene mit rein pulmonalen Diagnosen und Therapieansätzen.

Ausdrücklich und in aller Schärfe kritisiert die Arbeitsgemeinschaft Lebenswelten den angestrebten Paradigmenwechsel in dem Referentenentwurf RISG: „Weg von einer teilhabeorientierten Sichtweise, hin zu einer defizit- und kostenorientierten Betrachtungsweise von Behinderung und Krankheit“. Erneut gerät in Deutschland der „Wert“ eines Menschenlebens in den Focus der medizinischen Betrachtung. **

Wir fordern Zukunft, Normalität und Gemeinschaft für alle Menschen, unabhängig von ihren medizinischen Bedarfen. Denn wir sind alle gleich.

Die Selbstbestimmungsrechte und die Würde der Menschen stehen nicht zur Disposition. Auch nicht bei Krankheit und/oder Behinderung mit hohen Kosten für das Gemeinwesen in Abwägung öffentlicher Interessen.
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Einstimmige Beschlussfassung der Arbeitstagung vom 11.-12.10.2019 im Jugendwerk Hegau in Gailingen

Anmerkungen

* Wir sehen einen Widerspruch in ein und demselben Gesetzeswerk zwischen dem neuen § 37c SGB V und der Zielsetzung des SGB IX (Hervorhebungen von den Autoren). Zitat RISG § 37c, A. Allgemeiner Teil, I.: Zielsetzung…: „Die medizinische Rehabilitation hat die Aufgabe, Körperfunktionen (wieder-) herzustellen und Aktivitäten zu ermöglichen, so dass Menschen sich in ihrem Alltag zurechtfinden oder wieder in diesen zurückfinden. Bei chronischen Erkrankungen liegt die Aufgabe der medizinischen Rehabilitation darin, bereits eingetretene Funktions- und Aktivitätsstörungen soweit möglich zu reduzieren und dauerhaften Beeinträchtigungen, wie einer Pflegesituation, vorzubeugen.
Hingegen verlangt der § 1 SGB IX – Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft: „Menschen mit Behinderungen oder von Behinderung bedrohte Menschen erhalten Leistungen nach diesem Buch …, um ihre Selbstbestimmung und ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken. …“ Zitat § 4 SGB IX – Leistungen zur Teilhabe: (1) Die Leistungen zur Teilhabe umfassen die notwendigen Sozialleistungen, um unabhängig von der Ursache der Behinderung
1. die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern,
2. Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit oder Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern oder eine Verschlimmerung zu verhüten sowie den vorzeitigen Bezug anderer Sozialleistungen zu vermeiden oder laufende Sozialleistungen zu mindern,
3. die Teilhabe am Arbeitsleben entsprechend den Neigungen und Fähigkeiten dauerhaft zu
sichern oder
4. die persönliche Entwicklung ganzheitlich zu fördern und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie eine möglichst selbständige und selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen oder zu erleichtern. …

** Die Arbeitsgemeinschaft Lebenswerten bewertet den in diesem Referentenentwurf umgesetzten Paradigmenwechsel als inhaltliche Abkehr vom Humanismus. Um dem entgegenzuwirken wird die Arbeitsgemeinschaft ihre zukünftigen Arbeitsschwerpunkte in ethischen und politischen Fragestellungen vertiefen, Bündnisse mit anderen Organisationen im Gesundheitswesen initiieren und vermehrt öffentlichkeitswirksam arbeiten.

AG Lebenswelten – Ein Konzil der Ressourcen und immer auf Augenhöhe mit den Menschen

Spezialeinrichtungen der Behinderten- und Eingliederungshilfe, Betroffenenorganisationen, ambulante Pflegedienste, Kinderkliniken und andere Organisationen haben sich seit 2004 in der „Arbeitsgemeinschaft Lebenswelten“ zusammengeschlossen. Ziel der AG Lebenswelten ist es die Lebensqualität der betroffenen Menschen, insbesondere der Kinder zu verbessern und ihnen eine Stimme für ihre besonderen Belange und Bedürfnisse zu geben.

Lebenswelten Monitoring

Innerhalb welcher Rahmenbedingungen und mit welchen Belastungen leben junge Menschen mit Beatmung und ihre Familien im Jahr 2020?

PDF Monitoring 01-2020 herunterladen

Aufgrund veränderter Gesetzesgrundlagen und Richtlinien, einem eklatanten Fachkräftemangel und der pandemischen Gesamtsituation verändern sich die Lebenswelten von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Beatmung. Viele unserer Mitglieder berichten aktuell von umfassenden Schwierigkeiten, welche die Lebensorganisation, die Teilhabe, die Hilfsmittel und zunehmend auch die vitalen Bedarfe der jungen Menschen und deren Familien betreffen. Diese Entwicklung betrachtet die Arbeitsgemeinschaft Lebenswelten mit großer Sorge. Aus diesem Anlass haben wir uns entschlossen (bis zu) zweimal im Jahr ein Monitoring zu den aktuellen Lebenswelten der betroffenen jungen Menschen und ihren Familien herauszugeben. Dieses Monitoring kann und will keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder wissenschaftliche Evidenz begründen. Es besteht aus den Rückmeldungen der Mitglieder im Rundlauf unserer regelmäßigen Arbeitstreffen. Im Fokus des Rundlaufes stehen die Lebenswelten, Belastungssituationen und Ressourcen der jungen Menschen mit Beatmung und ihrer Familien. Da wir innerhalb der Arbeitsgemeinschaft Lebenswelten allerdings so gut wie alle Berufsgruppen, Dienstleistungsformen und auch Betroffenengruppen abbilden, darf an dieser Stelle von einem starken, Indikatoren bezogenen Monitoring ausgegangen werden. Dieses Monitoring ist kein anonymes Datenblatt, hinter den folgenden Kapiteln stehen immer konkret betroffene Menschen und Familien. Die Aussagen können auf Anfrage und Freigabe durch die entsprechenden Personen im Detail beschrieben und konkretisiert werden. In einem besonderen Fokus unserer Betrachtungen stehen auch die Krankenkassen und die medizinischen Dienste, welche Entscheidungsträger von Bewilligungen und Versagungen im Rahmen des geltenden Rechts sind.

Das Monitoring 1/2020 - Unsere Mitglieder berichten:

 

  1. Bewilligungen zur intensivpflegerischen Versorgung, insbesondere in den eigenen vier Wänden, werden vermehrt durch die Kassen abgelehnt, obwohl diese aus unserer Sicht notwendig wären. Immer öfter hören unsere Elternselbsthilfevereine in Ihren Beratungen den Satz: „Wir hatten seit Jahren Intensivpflege - Jetzt nicht mehr!“ Dies hat weitreichende Folgen für alle Betroffenen. Überwachungspflichtige Störungen der Gesundheit, die ein unvorhersehbares Anfalls- oder Aspirationsrisiko bedingen, werden MDK-gutachterlich nicht mehr der „speziellen Krankenbeobachtung“ zugeordnet, obwohl eine ärztliche Feststellung vorliegt. Stattdessen werden diese Versorgungen der allgemeinen Krankenbeobachtung zugerechnet, sodass diese nun in das Teilleistungsrecht des SGB XI, der Grundpflege fallen. Ein Kita- oder Schulbesuch ist somit nicht mehr möglich, da die mit der Eingliederungshilfe oder Grundpflege betrauten Berufsgruppen im Umfeld der Einrichtungen für gemeinschaftliche Bildung, die notwendige Krankenbeobachtung und Interventionsbereitschaft rechtlich und ausbildungsbedingt nicht leisten können und dürfen. Diese gutachterliche Praxis und das entsprechende Leistungsversagen der Kassen führt zur vollständigen Exklusion dieser chronisch kranken und behinderten Kinder. Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) wird hierbei konsequent ignoriert, da sich nach Ablehnung der Kassen oftmals kein anderer Rehabilitationsträger verantwortlich fühlt. Zudem engagieren sich nur wenige Leistungsträger, um untereinander eine Lösung im Sinne der betroffenen Kinder und Jugendlichen auszuhandeln. Ohne das BTHG zu beachten, wird diese Problematik auf dem Rücken der betroffenen Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ausgetragen. Unserer Meinung nach aus Kostengründen und in Abwendung von den Grundrechten unserer Verfassung. Diese Praxis schwächt systematisch die Gesundheit der betroffenen Familien, schwächt deren Resilienz und frisst ihre persönlichen Ressourcen und Perspektiven, welche dringend im Kontext Ihrer umfänglichen Bemühungen benötigt werden. Am Ende solch zermürbender Kämpfe um verfassungsmäßig verankerte Rechte stehen nicht selten mehrere zusätzlich erkranke Familienmitglieder.

Hinweis auf Leistungsverluste durch Anpassungen im Wirkungsbereich der Richtlinie für häusliche Krankenpflege (HKP): Zur angestrebten Stärkung der außerklinischen Intensivpflege wurden im vergangenen Jahr sowohl die geltende HKP-Richtlinie, als auch die dazugehörigen Rahmenempfehlungen aktualisiert. Die (unter anderem) erhöhten Anforderungen an die Qualifikation der Pflegefachkräfte haben bei den Kostenträgern zu einer deutlicheren Differenzierung zwischen spezialisierter und allgemeiner Krankenbeobachtung als Voraussetzung für die Bewilligung ambulanter Pflegeleistungen geführt. In der Folge wird bei jungen Patienten ohne Beatmung, bei denen nicht jederzeit behandlungspflegerische Maßnahmen unvorhersehbar erforderlich werden können, der Bedarf an einer 24-stündigen spezialisierten Krankenbeobachtung häufig nicht mehr anerkannt. Zum Beispiel bei frühen Formen der Mukopolysaccharidose (MPS) und schweren neurologischen Erkrankungen. Der weiterhin erforderliche Bedarf an Krankenbeobachtung (24/7) fällt damit in den Bereich der Grundpflege. Diese kann nur zu geringen Teilen über Verhinderungs- und Entlastungspflege abgerechnet werden. Betroffenen bleibt damit nur die Wahl, die Krankenbeobachtung zu Tages- und Nachtzeiten selbst zu leisten oder Hilfe zur Pflege zu beantragen, die als Sozialleistung jedoch den Nachweis der Bedürftigkeit erfordert. Wir weisen daher darauf hin, dass die aktuellen Leistungsanpassungen im Bereich der häuslichen Krankenpflege unabhängig vom Inkrafttreten des GKV-IPReG einzelne Patientengruppen, die bisher Leistungsempfänger im Bereich der HKP waren, in die Abhängigkeit von Sozialhilfe drängen.

  1. Versorgungs- und Hilfsmittel, wie z.B. Absauggeräte und Monitore werden bedingt durch die Pauschalverträge der Kassen mit den Hilfsmittellieferanten vermehrt nur noch in schlechterer Qualität und geringerer Haltbarkeit bewilligt.
  2. Einzelne Hilfsmittel wie Monitore, Kapnographen und fixierbare Oximeter, die eine höhere Sicherheit, Teilhabe und Lebensqualität für die Betroffenen bedeuten würden, werden vonseiten der Krankenkassen vermehrt nicht mehr finanziert.
  3. 4. Begleitende und entlastende Aufenthalte von Eltern mit Kindern in Hospizen werden ebenfalls immer öfter vonseiten der Krankenkassen nicht genehmigt. Die Begleitung von Kindern in Hospizen beginnt ab der Diagnosestellung und soll die Kinder wie auch Ihre Familien nachhaltig stärken und entlasten.
  4. Tendenziell werden deutlich mehr High-Flow-Beatmungen in den Kliniken umgesetzt. Diese gestalten sich dann in der außerklinischen Versorgung für die Betroffenen im Infektionsfall nicht selten problematisch. Zudem gilt diese Verordnung bei den Krankenkassen nicht als „Beatmung“ und begründet somit auch keine spezielle Krankenbeobachtung und Interventionsbereitschaft und damit keine Intensivpflicht. Diese wird aber von vielen Betroffenen und Ihren Familien benötigt, aus Gründen der Sicherheit, wie auch der Teilhabe.
  5. Die häufig nicht an den tatsächlichen Bedarfen und der gesetzlichen Teilhabe orientierten Leistungsversagungen und Leistungsverschlechterungen der Krankenkassen und die dazu adäquaten Einschätzungen der medizinischen Dienste bedeuten für die Betroffenen dauerhaften und zusätzlichen Stress. Betroffene müssen permanent kämpfen und Rechtsmittel androhen oder einsetzen. Dieser Energieverlust durch permanente Reibung schwächt alle Betroffenen und reduziert die Vielfalt ihrer Lebensmöglichkeiten, da sie immer wieder genötigt werden, sich um zusätzliche, lebensnotwendige und lebenserhaltende Dinge zu kümmern. Dauerhafte Auseinandersetzungen um die Bedarfe führen nicht selten dazu, dass weniger positive, normale und langfristige Lebensperspektiven aufbaut werden können. Solche Perspektiven werden aber grundständig benötigt, um ein lebenswertes Leben im Rahmen einer intensivpflichtigen Versorgung meistern zu können. Bleiben normale, langfristige (auch relativ langfristige) und selbstbestimmte Perspektiven versagt, führt dies wiederum nicht selten dazu, dass die Vitalität der Betroffenen und deren Familien markant und dauerhaft geschwächt wird. „Die Vitalität selbst ist das Resultat einer Vision. Wenn es keine Vision mehr gibt von etwas Großem, Schönem, Wichtigem, dann reduziert sich die Vitalität, und der Mensch wird lebensschwächer!“ Erich Fromm, 1900-1980, amerik. Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe dt. Herkunft.
  6. Die am häufigsten genannten großen Krankenkassen innerhalb der oben beschriebenen Zusammenhänge (1-6) sind die Barmer Ersatzkasse und die AOK, aber auch viele andere.
  7. Der extreme Fachkräftemangel/Pflegenotstand führt in der häuslichen Versorgung vermehrt zu der Situation, dass Eltern dauerhaft dazu gedrängt werden, komplette Dienstzeiten der Fachkräfte zu übernehmen. Und das bis zu 72h am Stück. Dies führt bei den Eltern zu extremen Erschöpfungszuständen, welche wiederum ein deutliches Sicherheitsrisiko darstellen. Aus Sicherheitsgründen entfallen zudem die Fachkräfte in der Pandemie, die neben ihrer Stelle im Krankenhaus noch einen 450-Euro-Job in der häuslichen Intensivpflege haben. Auch diese Situation müssen die Eltern durch Ihren eigenen Einsatz kompensieren und unterstützen uns alle damit in der Pandemie. Nur leider auf Kosten ihrer eigenen Gesundheit, ihrer eigenen Lebenswünsche und den Entwicklungspotenzialen und Fürsorgepflichten gegenüber den gesunden Geschwisterkindern. Perspektivisch gibt es zudem keinerlei erkennbare Konzepte, wie der eklatante Fachkräftemangel in Deutschland nachhaltig bekämpft werden soll und die fragilen Ressourcen der Familien entlastet werden können.
  8. Der aktuell extrem hohe Verbrauch an Schutz- und Versorgungsgütern in den Intensivstationen der Krankenhäuser führt dazu, dass innerhalb der außerklinischen Intensivpflege eine ständige Unterversorgung gemanagt werden muss. Insbesondere für kleinere Pflegedienstleister und Eltern im persönlichen Budget ist dies ein zusätzliches Problem. Hier werden mögliche Haftungsrisiken auf dem Rücken der Eltern abgeladen. Es gibt Beispiele, in denen Pflegedienste Hygienekonzepte, Testkapazitäten und Arbeitsschutzbekleidung bei den Eltern im persönlichen Budget nachgefragt haben.
  9. 10. Eltern, die Ihre vulnerablen Kinder aufgrund der Covid-19-Pandemie temporär aus den Kindertagesstätten nehmen wollen, werden oftmals gedrängt, ihre Plätze vollends aufzugeben. Die Geschwisterkinder dieser Hochrisikogruppe unterliegen in vielen Bundesländern aber weiterhin uneingeschränkt der Schulpflicht. Die betroffenen Familien können aktuell weder sachgerecht noch individuell und selbstbestimmt entscheiden, wie der Gesundheitsschutz vulnerabler Familienmitglieder mit dem Recht auf Bildung zu vereinbaren ist. Aus unserer Sicht ist es zudem völlig untragbar, welchem psychologischem Druck hier insbesondere auch die Geschwisterkinder ausgesetzt sind.
  10. 11. Bei vielen ambulanten Intensivpflegediensten sind Corona-Schnelltests noch immer nicht angekommen (Stand Anfang Dezember). Familien mit intensivpflichtigen Kindern benötigen dringend Corona-Schnelltests, um häusliche Therapien, die Pflege des Kindes durch Familienmitglieder und den normalen Kontakt mit den Geschwistern zuzulassen zu können. Unsere Elternselbsthilfevereine berichten regelmäßig, dass Geschwisterkinder aufgrund schulischer Infektionen ungetestet in häusliche Quarantäne geschickt werden und dass in Haushalte, in denen gleichzeitig Intensivpflege stattfindet. FFP-2 Masken für die pflegenden Eltern oder die Geschwister intensivpflichtiger junger Menschen werden auch nach dem neuen Gesetz weder bereitgestellt noch bezuschusst. Dieser Zustand ist untragbar und setzt alle Beteiligten einem zusätzlichen und unnötigen Druck aus.
  11. Die Integration Jugendlicher und junger Erwachsener mit Beatmung in das Berufsleben gestaltet sich aktuell extrem schwierig und findet praktisch nur noch selten statt. Es ist zu befürchten, dass diese Pandemie einen nachhaltigen Schaden in den Integrationsbemühungen anrichten wird.
  12. In ambulanten Kinderwohngemeinschaften mit intensivpflichtigen Versorgungen, sogenannten Beatmungs-WGs, sind pädagogische Fachkräfte zwingend erforderlich. Dies hat gute fachliche Gründe und ist eine Bedingung zur Erlangung der Betriebserlaubnis. Diese pädagogischen Fachkräfte werden allerdings an keiner Stelle refinanziert, denn die Krankenkassen bezahlen auf Personalebene lediglich die Pflegeleistungen. An dieser Stelle wird eine grundlegende Problematik deutlich: Erkrankte und verunfallte Menschen haben hohe individuelle und ganzheitliche Bedarfe und auch Potenziale. Diese stehen aber nicht alle in einem einzigen Sozialgesetzbuch. Viele Krankenkassen und auch andere Leistungsträger ziehen sich vermehrt auf den Standpunkt zurück, rechtlich nicht zuständig zu sein. Nun sind aber die Gesetze und Institutionen für die Menschen gemacht und nicht umgekehrt, ansonsten werden Sozialleistungen, die Daseinsfürsorge und der Gesundheitsschutz ad absurdum geführt. Bedürftige fallen immer öfter durch das kollektive Netz der unterschiedlichen Sicherungssysteme im Gesundheitswesen und nur noch große Dienstleister können oder könnten die naturgemäß ganzheitlichen und individuellen Bedarfe querfinanzieren. Viele unserer Mitglieder stemmen sich seit Jahren mit all Ihren Ressourcen gegen diesen Trend, können die systembedingte Morbidität aber immer weniger kompensieren. Leidtragende sind die Betroffenen und ihre Familien, welche immer weniger bedarfsgerecht versorgt werden.
  13. 14. Die Lebenswelten von jungen Menschen mit Beatmung in stationären Einrichtungen haben sich weniger verschlechtert als die in der häuslichen Intensivversorgung. Für die Gefahrenlage in der Covid-19-Pandemie und die Auswirkungen des Pflegenotstandes gilt dies allerdings nicht. Insbesondere in Ballungsgebieten wie auch in ländlichen Regionen sind die Auswirkungen des Fachkräftemangels erheblich. Wichtige Versorgungsangebote sind gefährdet. So mussten z. B. die Aufnahmekapazitäten einer neurologischen Frührehabilitation für Kinder und Jugendliche deutlich reduziert werden. Die Ressourcen von pädiatrischen Frührehabilitationen mit Intensivversorgung werden benötigt, um Folgeschäden schwerster Erkrankungen und Unfälle von jungen Menschen so gering wie möglich zu halten und das potenzielle Weaning, als auch eine individuelle Teilhabe zu gewährleisten.
  14. Die aktuell veränderten Rechtsgrundlagen im Bereich der „Intensivversorgungen“ werden ihre unterschiedlichen lebenspraktischen Auswirkungen erst noch entfalten. Eine angestrebte finanzielle Besserstellung von Familien mit Kindern in stationären Einrichtungen im Rahmen des GKV-IPReGs kommt bei den Betroffenen noch nicht an. Zudem wird die veränderte Refinanzierung im Bereich stationärer Dienstleistungen (über die Krankenkassen) auch noch nicht umgesetzt. Dies ist im zeitlichen Kontext verständlich. Die Ausarbeitungen der Richtlinien im gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) sind noch in Arbeit. Von einigen Veränderungen im Rahmen des GKV-IPReGs erwarten wir tendenziell zusätzliche Verschlechterungen. Unserer Meinung nach bei der Wahrung der Selbstbestimmungsrechte über den Aufenthaltsort und das individuelle Weaningpotenzial, als auch bei der Wahlfreiheit und Finanzierung intensivpflegerischer und partizipativer Leistungsangebote.

Deshalb möchten wir abschließend darauf hinweisen, dass die „Arbeitsgemeinschaft Lebenswelten“ im kommenden Monitoring 01/2021 einen Fokus auf diese Themen legen wird. Wir möchten alle Betroffenen, Fachkräfte und Mitglieder bitten, diese potenziellen Schwierigkeiten insbesondere mit den Krankenkassen und den MDK-Begutachtungen, zu dokumentieren und an folgende Adresse weiterzuleiten: info@lebens-welten.de

Fazit: Viele Eltern, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in der außerklinischen Intensivpflege kämpfen um ihre Bedarfe, ihre Zukunft und ihre Selbstbestimmungsrechte im Rahmen veränderter Richtlinien (HKP) und Gesetzte (GKV-IPReG). Insbesondere die Selbstbestimmung sichert ihre mannigfaltigen und individuellen Bedarfe in angemessener Qualität. Vital, integrativ und perspektivisch, denn nur eine individualisierte und multidimensionale Versorgung ermöglicht ein an der Normalität orientiertes Leben, wie wir es alle kennen und schätzen.

Viele Menschen fürchten um ihr Leben oder das ihrer Liebsten aufgrund einer vulnerablen Grunddisposition im Rahmen der Covid-19-Pandemie. Die Sorge, bei einer COVID-Infektion unter den Gesichtspunkten einer Triage nicht oder nur unzureichend behandelt zu werden, ist allgegenwärtig und setzt die Familien zusätzlich unter existenziellen Stress. Dieser wird durch den immer extremer werdenden Fachkräftemangel noch einmal deutlich verstärkt.

Aus Sicht der Arbeitsgemeinschaft Lebenswelten besteht aktuell ein grundsätzlicher, akuter und vielschichtiger Handlungsbedarf*, die Lebenswelten von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu stärken und zu festigen. Nicht nur die sozialen und integrativen, sondern ebenfalls die vitalen Bedarfe der Betroffenen und deren Familien sind gefährdet und finden immer weniger Beachtung aufseiten der Leistungsträger im Gesundheitswesen.

Es muss den betroffenen Menschen wie Hohn erscheinen, dass ihnen in den Titeln und Überschriften der erneuerten Gesetzgebungen und Richtlinien Qualität und Stärkung versprochen wurde, während sich Ihre Lebenssituationen auch aufgrund dieser Rahmenbedingungen deutlich verschlechtern. Aus Sicht der Arbeitsgemeinschaft Lebenswelten liegen die Ursachen für diese Misere auch in einer grundsätzlich technokratischen und bedarfsabgewendeten Gesundheitspolitik.

Deshalb müssen folgende Fragen gestellt werden:

  1. 1. Ist dies aus Kosten- und Personalgründen so gewollt? 2. Quo vadis?

Anmerkungen:

* In Bezug auf den oben angesprochenen Handlungsbedarf verweisen wir auf die Positionen unserer Mitglieder www.intensivkinder.de und www.intensivleben-kassel.de: Positionspapier: https://intensivkinder.de/wpcontent/uploads/2020/12/INTENSIVkinder_zuhause_-ev_Positionspapier_betroffene_Angehoerige.pdf

Die Arbeitsgemeinschaft Lebenswelten ist keine Körperschaft öffentlichen Rechts. Die Schwerpunkte liegen auf Arbeit und Gemeinschaft. In der AG Lebenswelten werden diverse humanistische Meinungsspektren abgebildet, die sich an unser aller Normalität orientieren. Grundlagen unserer Positionen sind die fachlich fundierten Arbeiten unserer Mitglieder. Diese müssen nicht immer der Meinung aller entsprechen, beruhen aber auf einem breiten Konsens. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf unsere Präambel: http://www.lebenswelten.de/praeambel/. Die überwiegend männliche Schriftform dient lediglich der Vereinfachung.